Lockdown Leisure, I: Der Translohr von Venezia, September 2020
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Beitrag Nr. 1   | Lockdown Leisure, I: Der Translohr von Venezia, September 2020 Autor: manniStadt / Stadtteil:
I-Arzl
   |  BeitragErstellt: 02.11.2020 22:56
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Im September habe ich mir im Zuge eines Kurzurlaubes in Venedig einen guten halben Tag Zeit genommen, um mir dort das im Lauf der Jahre in der Fachwelt immer wieder diskutierte Translohr-System mal in persona anzusehen - seit der Verlängerung von Mestre nach S. Lucia im Jahr 2015 hatte ich mir das vorgenommen.

Die meisten hier dürften wissen, was Translohr ist - trotzdem hier der Wikipedia-Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Translohr

Von Anfang an wegen der Notwendigkeit nur einer Schiene als billigere Alternative zur Tram beworben, hat sich bald herausgestellt, dass dieses Versprechen nicht haltbar war, weil zum einen die gesamte Fahrbahn, auf der die Busreifen des Translohr laufen, mit einem besonders harten und widerstandsfähigen Belag ausgeführt werden muss, und zum anderen es keine Konkurrenz unter den Fahrzeugherstellern gibt. Dennoch hat der Hersteller bis zum bitteren Ende an dieser Marktstrategie festgehalten. Inzwischen ist klar, dass ein Translohr-System teurer ist als eine Tram und ein Nischenprodukt. Alstom hat den insolventen Hersteller Lohr übernommen und konzentriert sich in seiner Vermarktung auf die spezifischen Vorteile - meiner Meinung nach die richtige Strategie. Die Nische sind Linien mit starkem Fahrgastaufkommen und damit Bedarf nach einer Spurführung auf Strecken mit Steigungen größer 8% und engen Kurven mit Radien kleiner 16 m.

Man hat damit auch für diese Fälle ein Produkt im Portfolio und der Alstom-Konzern hat genug Luft, um das Angebot bereitzuhalten, auch wenn es vielleicht nur alle paar Jahre mal einen Zuschlag gibt.

Bislang gibt es allerdings nur eine Translohr-Installation, die diese spezifischen Vorteile wirklich sinnvoll und ausgiebig nutzt, und zwar jenes von Medellin. Venedig dürfte seinerzeit noch den Versprechungen niedrigerer Kosten erlegen sein oder hat einfach der Entscheidungsfindung in Padua vertraut - diese fand in beiden Städten bereits etwa zehn Jahre vor Baubeginn statt. Ich gehe davon aus, dass man die Entscheidung heute in beiden Städten eher bereut und eigentlich nicht-proprietäre Tramsysteme benötigen würde - in Venedig nennt man das Verkehrsmittel jedenfalls offiziell "TRAM".

Alles weitere zum Translohr Venedig in der Wikipedia: https://it.wikipedia.org/wiki/Rete_tranviaria_di_Venezia
Ich verlinke hier auf die italienische Seite, weil die deutsche nur ein Stub mit praktisch null Information ist. Bitte die italienische Seite einfach von Google übersetzen lassen.

Doch kommen wir nun zu den Fotos. Es gibt in Venedig zwei Translohr-Linien. Auf Netzplänen und PIDs sind sie als T1 und T2 bezeichnet, nicht jedoch auf den Zielanzeigen - das verstehe wer will. Die Linie T1 fährt von der Altstadt (S. Lucia) zunächst ins Zentrum von Mestre zu einem Verknüpfungspunkt beider Linien und einiger Buslinien, dann weiter in die Plattenbausiedlung Favaro (Zielschild "FAVARO"), wo sich auch das Depot befindet. Von dort zurück nach Santa Lucia über Centro (Zielschild "VENEZIA" - das ist m.E. nichtssagend und mir ziemlich unverständlich angesichts der Tatsache, dass beide Linien ausschließlich innerhalb der Stadt Venedig verkehren, zu der auch Mestre gehört). Die T2 pendelt zwischen Mestre Centro und Marghera, einem Industriegebiet (Zielschilder "MARGHERA" und "MESTRE CENTRO").

Wagen 01 wartet abfahrbereit in S. Lucia bzw. P. Roma. Man sieht es hier nicht, aber ja, hier war man so schlau, den Endbahnhof so zu bauen, dass die Türen auf beiden Seiten verwendet werden können, was auch der Fall ist, auch wenn am Foto nicht zu sehen.



Vom Endbahnhof geht es über eine kurze Eigentrasse auf die Brücke, die die Altstadt mit dem Festland verbindet. Von dort bis Mestre Centro wird, mit Ausnahme einiger kurzer Streckenstücke an Straßenknoten, ausschließlich im Mischverkehr(!) gefahren. Das schließt aufwändige Straßenbrücken und Auf-/Abfahrtsrampen der Schnellstraße mit ein. Wir sprechen hier von mehreren Kilometern Mischverkehr auf einer staugefährdeten vierspurigen Schnellstraße - das war wohl eine Kostenfrage. Die nächsten drei Fotos zeigen die Auffahrt auf die Brücke.







Hier befinden wir uns bereits in Mestre Centro. Die Translohr-Schienen liegen beinahe rund um den Platz, eine Umrundung ist aber nicht möglich. Die Translohrs von der Altstadt fahren auf den Platz ein und umrunden ihn zunächst halb im Uhrzeigersinn, um dann an dieser Stelle zu halten.





Man würde nun glauben, dass die T2 am selben Bahnsteig hält. Aber nein, dazu muss man in eine Seitenstraße gehen, wo sich deren Endstation befindet. Hier wartet Wagen 09 auf die Abfahrt nach Marghera. Die Fahrgäste müssen ca. 150 Meter laufen, u.a. über eine sehr breite Fahrbahn. In meinen Augen eine Fehlplanung.



Am Platz befindet sich auch das einzige Stockgleis, das ich abseits des Depots gesehen habe. Es verfügt über Haltestelleninfrastruktur, vermutlich starten und enden dort Einschubkurse.



Das Gleis dorthin. Nach links geht es zur Haltestelle der T1, hinten rechts ums Eck ist die Endstation der T2.



Doch zurück zum T1. Von Mestre Centro geht es nun weiter nach Favaro.
Die Strecke nach Favaro sieht fast durchgehend so aus. Es ist abwechselnd fast immer das eine oder das andere Richtungsgleis im Mischverkehr. In einem weiteren Abschnitt liegen die Gleise in Randlage im Mischverkehr. Erst kurz vor dem Depot reicht der Platz für vielleicht 200 Meter Eigentrasse.

Hier sehen wir Wagen 02 auf dem Weg Richtung Zentrum.



Hier sind wir nun an der Endstation Monte Celo in Favaro (die Tatsache, dass die Bezeichnungen der Endstationen nicht den Zielschildern entsprechen, macht die Orientierung auch nicht unbedingt leichter).
Der Wagen ist gerade in die Wendeanlage eingefahren...



... und kommt zur Haltestelle, wo er die Stehzeit abwartet; in diesem Fall Wagen 13.



Wagen 20 in der Wendestelle. Rechts davon ist die Einfahrt ins Depot, ganz links die Ausfahrt aus dem Depot.



Das Haltestellendesign.



Jetzt geht's ganz woanders hin: wir sind auf der T2, bereits nahe der Endstation in Marghera. Die Strecke kommt auch dort erst am Ende aus dem Mischverkehr auf eine kurze Eigentrasse. Zu sehen ist Wagen 09.



Etwa 150 Meter vor der Endstation laufen beide Richtungsgleise in einer eingleisigen Schnürstelle zusammen - die einfachste Form einer Wendeanlage. Hier biegt Wagen 19 in diesen Abschnitt ein.



Und ein paar Meter danach teilen die Gleise sich für den Endbahnhof allerdings wieder in zwei auf, was die Schnürstelle fragwürdig erscheinen lässt.



Detailblick auf die Weiche...





... und das Ausfahrtssignal.



Wagen 12 wartet auf die Abfahrt - hier leider ohne Möglichkeit zur beidseitigen Türöffnung.





Ganz schlau werde ich aus der Konstruktion dieser ganzen Wendestelle nicht. Folgendes Bild lässt vermuten, dass eine Verlängerungsoption offen gehalten werden soll. Weshalb würde man sonst die Fahrbahnen durchziehen und nur den Mittelbahnsteig nutzbar machen?
Andererseits wird die seltsame eingleisige Schnürstelle zum Betriebshindernis, sobald hier nicht mehr gewendet wird.
Und dann steht am Streckenende noch ein Schutzweg-Schild, obwohl das Gleis davor endet. Ist das für Radfahrende? Nein, denn auf der anderen Seite prangt ein Fahrverbotsschild "ausgenommen Tram".
Alles wirkt ein bisschen so, als hätten mehrere verschiedene gestaltende Hände dieses Gesamtarrangement geschaffen, ohne von einander zu wissen.



Zu guter Letzt begeben wir uns noch ein gutes Stück zurück nach etwa der Streckenmitte der Linie T2. Dort unterquert die Trabnslohr-Strecke nämlich den Hauptbahnhof von Mestre und hält dort unterirdisch. Ganz offensichtlich wollte man hier eine typische stadtbahnartige Anbindung schaffen. Nur leider ist auch das meiner bescheidenen Meinung nach nicht sehr gelungen. Ab- und Aufgang enden in einem eigenen kleinen Gebäude nahe des Hauptbahnhofs, und man muss erst mal an die Oberfläche und ordentlich weit latschen, um anschließend wieder in die Unterführung zu den Bahnsteigen abtauchen zu können. Meiner Meinung nach hätte man die Trasse weiter in Richtung der Bahnsteige verschwenken müssen und die Haltestelle sollte mit mehreren Aufgängen und Liften entweder direkt an die Bahnsteige anbinden, oder wenigstens einen Tunnel direkt zur Bahnsteigunterführung anbieten. Aber erst nach oben und dann ewig weit latschen und dann erst wieder nach unten müssen, das geht m.E. einfach gar nicht. Kann natürlich sein, dass es gute Gründe dafür gibt, die ich nicht kenne. Vielleicht ist der Bahnhof auch einfach zu klein für so einen Aufwand.







Zu guter Letzt hier das einzige Stück Translohr-Trasse, das die besonders gute Steigfähigkeit des Systems nutzt: die innenstadtseitige steile Rampe in den Tunnel, die eine Tram wohl nicht packen würde. Auf der anderen Seite ist die Steigung nur leicht.



Das Fahrgefühl im Translohr ist im übrigen ähnlich wie in einem Bus. Damit es die Schiene und deren Oberbau nicht zerbröselt, wenn zwischen den Gummireifen und den je zwei Laufrädern in der Bewegung Spannungen entstehen, müssen letztere etwas flexibel gelagert sein und leichte Querbewegungen zulassen, die es bei einem Schienenfahrzeug auf normal instand gehaltenen Schienen nicht gibt. Damit geht jegliches "Schienenfahrgefühl" verloren und der Hauptfaktor für den Fahrkomfort wird die Fahrbahn für die Gummireifen. Diese ist allerdings besser als die meisten Fahrbahnen, auf denen sich Busse bewegen - harter Beton, der sich nicht wellen und keine Spurrillen bilden kann.
Allerdings scheint auch das nicht immer gewährleistet zu sein: die Tunnelstrecke wurde nur mit ca. 20 km/h befahren und fühlte sich durchgehend holprig an. Vielleicht war hier Beton minderer Qualität verbaut worden.

Alles in allem erscheint mit der Translohr von Venedig einigermaßen funktional, der Vorteil der Spurführung wird damit genutzt, dass die Wagen mit 32 m fast doppelt so lang sind wie Gelenkbusse. Aus heutiger Sicht würde man dort aber wohl eine Tram installieren.

Trotzdem bin ich gespannt, ob sich in Zukunft irgendwo auf der Welt weitere Städte wie Medellin finden, die den spezifischen Bedarf nach einem öV-System haben, der nur von Translohr bzw. dessen Nachfolgesystem gedeckt werden kann und wo dieser Hybrid aus Schiene und Straße daher wirklich Sinn macht.

Zuletzt bearbeitet von manni: 15.11.2020 02:13, insgesamt 4 mal bearbeitet

Beitrag Nr. 2   |  Autor: thmmax   |  BeitragErstellt: 03.11.2020 00:50
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Sehr interessanter Bericht, danke Manni! Das Foto mit Wagen 02 Richtung Zentrum erinnert mich irgendwie an Innsbruck big grin

Beitrag Nr. 3   |  Autor: Admiral   |  BeitragErstellt: 03.11.2020 11:51
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auf jeden fall interessant... ich denke man muss nicht mal schlechten beton verarbeiten, um auf dauer trotzdem schäden in der fahrbahn zu bekommen. starke beschleunigungen und das gewicht machen den einfach auch mürbe tät ich meinen... dazu hat man hier ja wirklich nur punktlasten, auch bei beschleunigungen, und nicht wie bei der bahn, die kraft über die schiene etwas breiter verteilt.. plus dass dann die zusätzliche federung einfach in schwingung gerät..

Beitrag Nr. 4   |  Autor: manniStadt / Stadtteil:
I-Arzl
   |  BeitragErstellt: 03.11.2020 17:15
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thmmax schrieb:
Sehr interessanter Bericht, danke Manni! Das Foto mit Wagen 02 Richtung Zentrum erinnert mich irgendwie an Innsbruck big grin


Nur dass die gelben Plastikschwellen dort wirklich nachgerüstet und nicht von Anfang an als Dauerlösung mitgeplant wurden.

Beitrag Nr. 5   |  Autor: manniStadt / Stadtteil:
I-Arzl
   |  BeitragErstellt: 03.11.2020 17:20
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Admiral schrieb:
auf jeden fall interessant... ich denke man muss nicht mal schlechten beton verarbeiten, um auf dauer trotzdem schäden in der fahrbahn zu bekommen. starke beschleunigungen und das gewicht machen den einfach auch mürbe tät ich meinen... dazu hat man hier ja wirklich nur punktlasten, auch bei beschleunigungen, und nicht wie bei der bahn, die kraft über die schiene etwas breiter verteilt.. plus dass dann die zusätzliche federung einfach in schwingung gerät..


Laut der Wikipedia-Seite sind die Betonfahrbahnen in eine Art Stahlplattenschalungen eingefasst, um nicht in Lauf der Zeit nachgeben und zerbröseln und sich aufgrund der Belastungen in den umgebenden Asfalt hineinarbeiten zu können. Vielleicht wurde im Tunnel eine andere Bauweise gewählt. Es war dort jedenfalls sehr langsam und holprig.

Beitrag Nr. 6   |  Autor: Martin   |  BeitragErstellt: 07.11.2020 19:25
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Ja, vom Fahrverhalten hat er mich sehr an die Bahn in meinem neuen eigentlich schon von manchen gelösten Rätsel erinnert.

Zwischen P. Roma und Mestre fährt er ja maximales Tempo. Das klingt fast wie im Flugzeug biem Starten oder Landen mit Zwischengas, wenn der Sinkwinkel zu steil ist. Fühlt sich auch ähnlich unrund an.

...also: angenommen, man würde rein hypothetisch mit dem Fahrrad auf Stahlrädern auf dem Gleis fahren ist´s ähnlich laut. Allerdings fährt es sich mit dem Fahrrad so erschütterungsfreier dreirad

Zuletzt bearbeitet von Martin: 07.11.2020 19:32, insgesamt einmal bearbeitet

Beitrag Nr. 7   |  Autor: ZillerkrokodilStadt / Stadtteil:
Hall in Tirol
   |  BeitragErstellt: 09.11.2020 20:20
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Also zum ansehen sind die Fahrzeuge ja recht schön, besonders dieses Foto gefällt mir

http://forum.strassenbahn.tk/userpix/1_20200810_translohr_06_1.jpg

Nur kann ich mir nicht vorstellen dass dieses System mit Mittelschiene 100% gerader Betonfahrbahn und
Stahlschalung billiger sein kann als ein herkömmliches Straßenbahnsystem grübel .


Trotzdem, das Wetter war offensichtlich super und die Fotos gelungen .


LG Zillerkrokodil

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